Bewertungen von Baumängeln und Schäden an Gebäuden mit Hilfe architektursemiotischer Analysen
Problem / Sachverhalt
Bei der Bewertung von Baumängeln, insbesondere bei den so genannten „optischen Mängeln“ werden architekturtheoretische bzw.
architektursemiotische[i] Analysen bislang nicht eingesetzt, obwohl dies sinnvoll erscheint, handelt es sich doch bei diesen
Bewertungen im ästhetisch-gestalterischen Bereich um Mikro-Architekturkritiken. Die „Gebäudegestaltung“ wird bei Bewertungen mit Hilfe der heute oft benutzten Zielbaummethoden von den
verschiedensten technischen Schutzzielen wie Standsicherheit, Feuchteschutz, Wärmeschutz, Schallschutz etc. geradezu erdrückt. Architektinnen und Architekten genauso wie die gestaltenden
Ingenieure, nachfolgend natürlich auch die Bauherren und Benutzer von Gebäuden, leiden in der Praxis unter diesen mehr aus der technischen Sichtweise erstellten Mängelgutachten, wenn es
künstlerische Ansprüche an das Bauwerk gibt.
Funktionsbegriffe in der Architekturtheorie
Der Funktionsbegriff in der Architektur wird bei verschiedenen Autoren wie Vitruv, Jan Mukařovský, Christian Norberg-Schulz, Renato Venturi, Umberto Eco und Nelson Goodman (um nur einige zu nennen) diskutiert. Der Begriff Funktion
(lateinisch functio = Verrichtung) kann in der Architektur als Verwendungszweck bezeichnet werden.
Vitruv[ii] schreibt vor über 2000 Jahren im ersten Kapitel seines ersten Buches in „Die Ausbildung des Baumeisters“: „Wie nämlich auf allen Gebieten, so
gibt es ganz besonders auch in der Baukunst folgende zwei Dinge: was angedeutet wird und was andeutet. Angedeutet wird der beabsichtigte Gegenstand (das Ziel), von dem man spricht.“ Diese
Sichtweise entspricht dem § 633 Abs.2 BGB n.F. wenn wir von der Verwendungseignung und der Beschaffenheit des Werkes sprechen.[iii] Eine Verwendungseignung kann nur festgestellt werden, wenn der Verwendungszweck, die Funktion
definiert ist. Weiter schreibt Vitruv im dritten Kapitel: „Diese Anlagen müssen aber so gebaut werden, dass auf Festigkeit, Zweckmäßigkeit
und Anmut Rücksicht genommen wird. Auf Festigkeit wird Rücksicht genommen sein, wenn die Einsenkung der Fundamente bis zum festen Untergrund reicht und die Baustoffe, welcher Art
sie auch sind, sorgfältig ohne Knauserei ausgesucht werden; auf Zweckmäßigkeit, wenn die Anordnung der Räume fehlerfrei ist und ohne Behinderung für die Benutzung und die Lage
eines jeden Raumes nach seiner Art den Himmelsrichtungen angepasst und zweckmäßig ist; auf Anmut aber, wenn das Bauwerk ein angenehmes und gefälliges Aussehen hat und die Symmetrie
der Glieder die richtigen Berechnungen der Symmetrien hat.“
Setzt man Zweckmäßigkeit mit Bauaufgabe gleich, Anmut mit Form und Festigkeit mit Technik ergibt sich das Vitruv´sche triadische System der Architektur:
Nelson Goodman[iv] schreibt in
„Revisionen“[v]: “Schließlich hat ein Werk der Architektur wie nur in wenigen
anderen Künsten eine praktische Funktion, etwa für bestimmte Tätigkeiten Schutz zu bieten und sie zu erleichtern, die nicht weniger
wichtig ist als seine ästhetische Funktion und über diese oft dominiert. Die Beziehung zwischen diesen beiden Funktionen reicht von wechselseitiger Abhängigkeit über gegenseitige Verstärkung bis zu offenem Zwist und kann
höchst komplex sein. ... Ein Bauwerk ist nur insofern ein Kunstwerk, als es auf irgendeine Weise
bezeichnet, bedeutet, Bezug nimmt, symbolisiert. Das mag nicht selbstverständlich erscheinen, denn die schiere Masse eines Werks der Architektur
und seine tägliche Widmung für einen praktischen Zweck überlagern gern seine symbolische Funktion.“
Diese drei Hauptfunktionen nach Goodman entsprechen der triadischen Relation von Vitruv, setzt man Bauaufgabe mit den symbolischen Funktionen gleich, die Technik mit den
praktischen Funktionen und die Form mit den ästhetischen
Funktionen.
Diese drei Funktionsarten kann man sich auch in einem mathematischen x-y-z-Achsenmodell vorstellen. Die drei Achsen treffen
sich in einem 0-Punkt und die Funktionen können positiv wie negativ bewertet werden. Dieses Modell eignet sich zur allgemeinen Analyse von Architektur, bei einzelnen Momentaufnahmen lassen sich
in diesem Modell auch die Lebensläufe einzelner Bauwerke darstellen. Wenn dieses Modell eine allgemeine Gültigkeit hat, bietet es sich an, auch Baumängel damit zu analysieren.
Die Beeinträchtigungen praktischer Funktionen stellen sicherlich den Hauptanteil der Baumängel dar. Dies sollte aber nicht zu
der Annahme verleiten, dass es sich z.B. bei den symbolischen Funktionen um rein virtuelle Dinge handelt. Eine neue Konstruktionsmethode kann z.B. bei Ihrer Entstehung keinerlei symbolische
Funktionen erfüllt haben, die Mehrheit der damaligen Betrachter fanden sie auch eher unästhetisch, aber sie erfüllte bei der Erstellung alle neuen praktischen Anforderungen. Im Laufe der Zeit
kann sich dies nun total umgekehrt haben: die Konstruktion ist technisch überholt, erfüllt nicht mehr die praktischen Funktionen, erfüllt aber mittlerweile symbolische Funktionen z.B. auch als
denkmalgeschütztes Gebäude. Der ästhetische Geschmack der Betrachter hat sich mittlerweile mehrfach geändert und gewandelt, Veränderungen wird es insbesondere in diesem Bereich auch in der
Zukunft geben.
Symbolische Funktionen
Nach Goodman lassen sich die Varianten der möglichen Bezugnahmen in der Architektur unter 4 Stichworten zusammenfassen:
Denotation, Exemplifikation, Aus-druck, vermittelte Bezugnahme. Nachfolgende Struktur macht die Zusammen-hänge deutlich.
Weisen der Bedeutung in der Architektur
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Direkte Bezugnahme
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Indirekte
Bezugnahme
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Deno-tation
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Exemplifikation
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Vermittelte Bezugnahme
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Buch-stäbliche
Exemplifi-kation
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Ausdruck
Meta-phorische Exemplifi-kation
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Denotation[vi]
Die Denotation dient der Klassifikation von Objekten in Form der Repräsentation als bildliche Darstellung von Objekten und Ereignissen. Um zu repräsentieren, muss ein Bild als ein
bildliches Symbol fungieren. so dass das Denotierte einzig und allein von den bildlichen Eigenschaften des Symbols abhängig ist. Beispiel: Gebäude, die etwas abbilden; Opernhaus in Sydney -
Segelboote.
Buchstäbliche Exemplifikation
Die Exemplifikation ist die Hauptweise, in der Werke der Architektur bedeuten. Im Vorgang der Exemplifikation wird Bezug genommen auf Eigenschaften, die ein Gegenstand
besitzt und deren Referenz. Die Referenz als Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichneten verweist auf die situativen Gegebenheiten, die den Gültigkeits-bereich des Symbolisierungsprozesses bestimmen. Dabei wird die
Denotation vorausgesetzt und von hier aus nach weiteren Kennzeichen gefragt.
Beispiel: Brandenburger Tor – Stadttor.
Ausdruck
Die Zuschreibung von Eigenschaften betreffen den buchstäblichen Besitz des symbolisierten Gegenstandes oder Ereignisses aber auch Gefühle, Empfindungen, Ideen, Erlebnisse, die damit in Verbindung gebracht werden
bzw. ausgelöst werden (sollen). Gefühle und Empfindungen können nur metaphorisch exemplifiziert
werden und bringen in dieser Weise Eigenschaften zum Ausdruck.
Beispiel: Brandenburger Tor – Grenze, Mauer, Freiheit, Sieg, Macht, Ohnmacht; seit
der Wende wieder mit abnehmender Tendenz.
Vermittelte Bezugnahme
Die vermittelte Bezugnahme entsteht über eine Symbolisierungskette.
Teile von Bauwerken übernehmen vermittelte Bezugnahme, wenn sie Formen übernehmen, die z. B. von griechischer oder ägyptischer Architektur
abgebildet werden und so indirekt auf solche Bauwerke Bezug nehmen und Eigenschaften
exemplifizieren, die diese ausdrücken.
Beispiel: Opernhaus in Sydney: denotiert Segelboote, exemplifiziert Befreiung von der Erde, exemplifiziert Spiritualität
Messen von Bedeutung
Bei der Bewertung von Beeinträchtigungen der ästhetischen und der symbolischen Funktionen in der Architektur können
Analyse-Werkzeuge aus der Semiotik herangezogen werden wie die Bedeutungsanalyse[vii] (Semantisches Differential SD). Das Semantische Differential ist ein von
Charles E. Osgood entwickeltes Verfahren zur quantitativen Analyse von subjektiven Bedeutungen.
Wahrnehmung versus Funktionen
Die derzeit benutzte Einteilung in technische und optische Mängel, greift zu kurz und ist in sich nicht logisch. Wenn die
Wahrnehmungssinne ausschlaggebend sind, kämen noch haptische, akustische, olfaktorische, vielleicht auch gustatorische Mängel hinzu, nur passen da die technischen Mängel nicht mehr ins Bild,
sind sie doch über all diese Möglichkeiten wahrzunehmen, hier muss aber noch ein Abgleich über die reine Wahrnehmung hinaus mit einem praktischen Wissen erfolgen. Ähnlich verhält es sich mit
den optischen Mängeln, der Mangel liegt ja nicht in der Optik, vielmehr wird er optisch wahrgenommen, dies trifft aber auch auf die meisten technischen Mängel zu. In der Praxis wird der Begriff
optischer Mangel so benutzt, dass es eigentlich „nur optischer Mangel, die technischen Funktionen sind alle erfüllt“ bedeutet. Bei der Bewertung optischer Mängel werden Begriffe benutzt wie
Geltungswert, Prestige, Repräsentation, optisches Erscheinungsbild etc., die alle auf ästhetische oder symbolische Funktionen hinweisen.
Eine geeignete Struktur der Mangeldefinition ist die Verwendungseignung, die an dem Verwendungszweck, der Funktion,
abgeglichen werden muss. Die Grafik soll diesen Zusammenhang klarstellen: Mängel aller Funktionsbereiche könnten mit allen Sinnen wahrgenommen werden (keiner ist ausgeschlossen).
Eine herausragende Stellung hat natürlich die optische Wahrnehmung, hier ist auch die menschliche Aufnahmekapazität an
Informationen um ein vielfaches höher als bei den anderen Wahrnehmungssinnen.
Empfehlungen für die Praxis
Es sollte bei der Beurteilung von Baumängeln dahingehend differenziert werden, ob es sich um Verwendungsbeeinträchtigungen bei
praktischen, ästhetischen oder symbolischen Funktionen handelt.
Nachfolgende Matrizen bauen auf zwei Matrizen von Prof. Oswald[viii] auf und sollen bei
der Einschätzung helfen, ob ein Mangel nachgebessert werden muss oder ob eine Minderung ausreicht.
Praktische Mängel
Ästhetische Mängel
Symbolische Mängel
Beeinträchtigungen an den symbolischen Funktionen müssen differenziert werden, manche Defizite in diesem Bereich können z.B.
nicht nur durch die Mängelfreiheit hauptsächlich im praktischen Bereich ausgeglichen werden. Diese prominente Stellung begründet sich damit, dass ein Bauwerk durch bestimmte symbolische
Funktionen ein Werk der Baukunst wird. Manche symbolische Funktionen erhält ein Bauwerk erst im Laufe der Zeit, es kann sie auch wieder verlieren (Beispiel Brandenburger Tor). Beim Bauen im
Bestand muss darauf Rücksicht genommen werden. Aber auch bei neuen Bauvorhaben kann den GestalterInnen nicht abgesprochen werden, dass sie Bezug nehmen, symbolisieren. Es kann von den
ausführenden Firmen sicherlich nicht verlangt werden, dass sie symbolische Bezüge ohne weiteres selbst erkennen, hier muss in den Bau- und Leistungsbeschreibungen bzw. in der eigentlichen
Notation der Architektur, der Bauzeichnung, hingewiesen werden.
Technische Sachverständige sollten über ein ausreichendes Wissen in den Bereichen Ästhetik und Architekturtheorie verfügen,
wenn sie sich zu ästhetischen und symbolischen Mängeln sachverständig äußern.
Anwendungsbeispiel: Ein Unternehmen lässt eine Fassade ihres Verwaltungsgebäudes mit der Farbe des CI (Corporate Identity)
verputzen, das ausführende Unternehmen verwendet jedoch eine andere Farbe
- Die praktischen Funktionen werden einwandfrei erfüllt, der Putz entspricht genau den technischen Anforderungen
- Die ästhetischen Funktionen werden übererfüllt, der gesamten Belegschaft wie den Besuchern gefällt die verwendete Farbe besser, als die festgelegte Firmenfarbe.
- Die symbolischen Funktionen werden nicht erfüllt, der beabsichtigte Bezug zum Unternehmen ist nicht hergestellt, die neue Farbe erinnert vielleicht sogar noch etwas an das CI des Mitbewerbers.
Norbert Reimann, Architekt, Berlin
[i] Semiotik ist die Lehre
von den Zeichen, Zeichensystemen und Zeichenprozessen mit ihren Einzel-wissenschaften Syntaktik, Semantik, Pragmatik
[ii] Vitruvius Pollio,
Marcus, Zehn Bücher über Architektur, Übers. von Curt Fensterbusch, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1981
[iii] Kamphausen,
Peter-Andreas, Bauschadensfälle, Band 3, Günter Zimmermann und Ralf Schumacher (Hrsg.), Stuttgart: Fraunhofer IRB Verlag, 2003
[iv] Nelson Goodman,
geboren 7. August 1906, gestorben 25. November 1998, Professor für Philosophie an der Harvard University Philadelphia.
[v] Goodman, Nelson,
Revisionen, Philosophie und andere Künste und Wissenschaften, 1. Auflage, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1993
[vi] Das Denotat
(lateinisch denotatum: 'das Bezeichnete')
[vii] Das Messen von
Bedeutung in Architektur, Stadtplanung und Design, Martin Krampen, Werk 1 + 2, 1971
[viii] Oswald, Rainer:
Hinzunehmende Unregelmäßigkeiten bei Gebäuden, Wiesbaden, Berlin; Bauverlag, 1998
Zuerst erschienen: IBR 2006, 1185 Bewertungen von Baumängeln mit Hilfe architektursemiotischer
Analysen
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